Die „Unfruchtbarzumachende“
Die Hauptaufgabe des Stadtarchiv Linden ist aktuell, den letzten Teil der Sammlung – das Archiv der Stadt Linden ab 1977 – zu verzeichnen und korrekt zu verpacken. Die Erschließung und Konservierung von Archivgut ist zwar keine spektakuläre, aber eine der wichtigsten Aufgaben, die in einem Archiv anfallen. Dabei wird zuerst entmetallisiert – das heißt, es werden alle Metallteile wie z.B. Tackernadeln und Heftklammern entfernt. Anschließend werden Titel und Datierung in einer Excel-Tabelle erfasst und mit einer Signatur versehen – das sind individuelle Buchstaben- und Zahlenkombinationen, mit denen jede Akte im Archiv eindeutig identifiziert und wiedergefunden werden kann. Zum Schluss werden die Unterlagen in spezielle säurefreie Archivmappen und -kartons verpackt, damit sie gut geschützt langfristig erhalten werden können. Die Erschließung bezeichnet hier die Erfassung und Dokumentation – Was haben wir? Von wann ist es? Welche Signatur hat die einzelne Akte? Die Konservierung hingegen bezeichnet die fachgerechte Verpackung in Archivkartons und -mappen, ohne Metall.
Bei den fast 1.000 Signaturen für genauso viele Mappen ist bisher aufgefallen, dass der Teil des Archivs, der eigentlich ab 1977 anfangen sollte, auch viele Dokumente enthält, die deutlich älter sind. Ungewöhnlich ist dies nicht, manchmal werden Dokumente erst später wiedergefunden oder kommen von anderen Verwaltungsstellen in das Archiv.
Während sich diese Arbeit oft wie Akkordarbeit anfühlt, findet man doch ab und zu Dokumente, die interessant oder wie im Falle der Unterlagen der „Unfruchtbarzumachenden“ (im folgenden Frau U. genannt) wirklich erschütternd sind. In einer unzusammenhängenden Sammlung an Dokumenten, einem sogenannten Konvolut, die zuvor die knappe Beschriftung „Gesundheitswesen Großen-Linden“ hatten, finden sich die Unterlagen zur Unfruchtbarmachung – einer von der nationalsozialistischen Regierung angeordneten Zwangssterilisation - der Frau U.
In der Akte findet sich ein knappes Schreiben des Erbgesundheitsgerichtes Gießen aus dem Jahr 1935, in der die Stadt Großen-Linden dazu aufgefordert wurde, die Persönlichkeit der zur Zwangssterilisation vorgesehenen Frau U. aus Großen-Linden darzulegen. Die Gemeinde hat daraufhin ein Dokument erstellt, in denen auf drei Seiten die Lebenslage und Abstammung der Frau U. dargelegt wird. Hieraus geht hervor, dass die Mutter von Frau U. das letzte von 12 Kindern war, von denen mindestens 6 das erste Lebensjahr nicht überlebten. Um weitere Angaben zu Frau U.s Erbbiologie zu machen, wurden ältere Nachbarn befragt, die berichteten, dass einige der Verwandten von Frau U. mit einer geistigen Beeinträchtigung lebten und eine von ihren Tanten in einer Heil- und Pflegeanstalt verstarb.
Eine Seite weiter wird auch Frau U. als Person mit geistiger Beeinträchtigung beschrieben, die bis vor kurzem in der örtlichen Zigarrenfabrik beschäftigt war. Diese Beschäftigung musste sie aufgeben, weil sie niemanden hatte, der ihr 1934 geborenes Kind tagsüber beaufsichtigen konnte. Über den Kindsvater ist in den Dokumenten nichts zu finden.
Aus dem nächsten Dokument geht hervor, dass Frau U. Anfang des Jahres 1936 in die Universitätsklinik in Gießen untergebracht und zwangssterilisiert wurde. Hierbei handelt es sich nicht etwa um medizinische Unterlagen, vielmehr stellt das Kreisamt Gießen der Stadt Großen-Linden die Kosten für Frau U.s Unterbringung in Rechnung, 115 Reichsmark sollte die Stadt überweisen. In einem weiteren Schreiben weigert sich die Stadt den Betrag zu begleichen.
Insgesamt umfassen die Unterlagen nur knappe 10 Seiten, aus denen sich verschiedene mögliche Szenarien deuten lassen:
Die Datierung der Schreiben belegt, dass die Stadt Großen-Linden sich mit ihren Angaben zu Frau U.s Erbgesundheitsgeschichte monatelang Zeit gelassen hat. Erst nach einer erneuten Aufforderung lieferte man die drei Seiten Fragebogen. Der Aufforderung, für die Sterilisation aufzukommen, antwortete man jedoch gleich recht schroff mit den Worten, „dass es sich um Sterilisationskosten handele, an denen sich die Gemeinde nicht beteilige“. Es ist möglich, dieses Vorgehen der Stadtverwaltung Großen-Linden als kleinen Widerstand gegen das Erbgesundheitsgericht zu interpretieren. Möglicherweise war man in einer kleinen Gemeinde eng genug verbunden und hoffte darauf, dass die Sache mit der Zeit vergessen gehen würde.
Hier zeigen sich aber auch immer wieder die Grenzen von Archivgut: Die Dokumente zeigen immer nur einen kleinen Auszug, aus der eigentlichen Geschichte. Es ist häufig so, dass man mit mehr Fragen und eigenen Interpretationen des Geschehens zurückbleibt.
Während wir heute Zwangssterilisationen als große Ungeheuerlichkeit einer nationalsozialistischen Regierung verurteilen, wird bei den Unterlagen im Archiv deutlich, dass das Vorgehen unter den damals geltenden Gesetzen völlig legal und eine rein bürokratische Angelegenheit war. Die neuen „Gesetze zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurden in ihrer ersten Version 1933 im Reichsgesetzblatt (welches auch im Archiv liegt) veröffentlicht. Auch hier lassen die Unterlagen Spielraum für eine Interpretation der Geschichte: Es ist möglich, dass Frau U. dem Erbgesundheitsgericht in Gießen erst aufgefallen ist, weil sie1934 ihr Kind in Gießen zur Welt brachte.
Frau U. starb 1936 – also noch im selben Jahr, in dem sie in Gießen zwangssterilisiert wurde. Ihr Kind lebte zu diesem Zeitpunkt, während wir diesen Text mehrmals korrigierten, wussten wir allerdings nichts über dessen weiteres Schicksal. Aus den Akten ging hervor, dass es schwer an einer Knochenkrankheit, die im Kindesalter auftreten kann, erkrankt war. Zu seinem weiteren Verbleib gab es aber keinerlei Angaben. Nur durch Zufall konnte im Archiv kurz vor der Veröffentlichung noch etwas gefunden werden: Frau U.s Kind tauchte in einer Namensliste mit den Berufsschülern von 1949 aus Großen-Linden auf.
Die Geschichte von Frau U.s angeordneter Zwangssterilisation zeigt zudem, wie ein Trauma in einer Familie entstehen kann. Der Verlust von einem halben Dutzend Säuglingen im Kindesalter, die geistige Beeinträchtigung einiger Familienmitglieder, die Geburt eines unehelichen Kindes in der damaligen Zeit und nicht zuletzt die Zwangssterilisation mit dem anschließenden Tod von Frau U. An einer solchen Familiengeschichte zeigt sich beispielhaft, wie ein Trauma mehrere Generationen betreffen kann und wie dies in vielen anderen Familien, im dörflichen Großen-Linden sowie in den größeren Städten, durch die Ungerechtigkeiten des nationalsozialistischen Regimes und des Kriegsgeschehens zuhauf passiert ist.
Das Archiv ist Mo-Fr von 8:00-14:00 Uhr unter 06403-605-52 oder via erreichbar.